MÄRCHENVERSE

Wald für Märchenverse

 

 

Joringel und Jorinde

 

Die rote Blume in der Hand

ging lang Joringel durch den Wald,

bis er das Schloss drin wieder fand,

das heißt Jorindes Aufenthalt,

seit sie mit ihm vor Tag und Jahr

dem Ort zu nah gekommen war.

 

"Zicküh, zicküh":

kommst nicht zu früh!

In einen Korb sperrt sie mich ein,

seitdem sie mich verzaubert hat

zur Nachtigall! Das bin ich satt,

der Korb ist nämlich viel zu klein!

Mag keine Nachtigall mehr sein:

 

"zicküh, zicküh, zicküh!"

 

Schon steht er hundert Schritte vor

dem Schloss, wird nicht wie damals fest

wie Stein, geht fort bis an das Tor,

das mühelos sich öffnen lässt,

rührt sacht er mit der Blume dran.

Ein langer Flur liegt vor ihm. Dann ...

 

"Juchhei, juchhei,

bin wieder frei

und schön wie damals vorderhand!

Was hilft es, Nachtigall zu sein,

sperrt man im engen Korb dich ein?"

Sie gehn nach Hause Hand in Hand.

Das Weitere ist unbekannt.

 

Wir lassen es dabei.

 

Des Kranichs Dank

Das Vogelherz in ihrer Brust.
Und hatte er es nicht gewusst?
Da sie den ersten Gruß ihm bot,
als sie vor seiner Tür ihm stand
zur Nacht, war die voll lauter Schnee,
ihr Obi war dabei so rot,
der ihr das kranichweiße Kleid,
den Kimono, zusammenband,
wie erst am Tag der Scheitel war
des Kranichs, den mit knapper Not
er aus dem Fangholz noch befreit,
da er ihn heimwärts wandernd fand
des Wegs im Wald, und in dem Schnee
das Vogelblut so rot auch war.

Dann hatte sie auch nie gespart
an Kranichmustern mancher Art,
die sie in manches Tuch verwob
des Nachts bei Mond-, bei Lampenschein
aus Leinen, Seide und Brokat.
Und hatte so wie ihrs noch kein
Tuch irgendwer gekannt, nur Lob
gab es dafür, und als geschah,
dass, was er da zum Kauf anbot,
des Wegs daher der Lehnfürst sah
und prüfte und gab Gold so reich-
lich, wie er es sein Lebtag lang
noch nicht gesehn, und fordert' mehr
in knapper Frist, die er gebot,
da wob sie Tag und Nacht, dass bang
ihm ward, wenn sie bisweilen bleich
und müder aus dem Zimmer trat
und reichte ihre Stoffe her.

Und da er sein Versprechen brach,
ward das Vorher ihm zum Danach.
Denn wie er wider das Gebot
sich sorgend heimlich bei ihr ein-
getreten war, nach ihr zu sehn

es war schon beinah Tag , da stand
am Webstuhl dort ein Kranich, der
geschickt ihn brauchte, während er
sich Federn auszog, und er schob
sie in die Fäden und verwob
als schöne Muster weiß und rot
sie stetig in den Stoff hinein.
Stumm staunend blieb er davor stehn
und hatte ihn schon fast erkannt.

Da war es schon kein Kranich mehr,
sie selber, noch ein Mal, als er,
nachdem sie weinend näher kam,
was sie sich kniend sprach, vernahm,
als hätte er es längst gewusst:
"Der Kranich bin ich, den vor Zeit
du rettetest vor sichrem Tod,
und dass ich kam in der Gestalt,
die ich jetzt lasse, war mein Dank.
Jetzt scheiden wir nach dem Gebot,
das uns verhängt ist ..." In der Brust
das Vogelherz, zur Tür hinaus,
sah sie erst kaum nach Vogel aus,
als sie in einem Übergang
sich flügelschlagend aufwärts schwang,
und flog als Kranich Richtung Wald.
Ringsum war alles tief verschneit.
Er stand noch lange vor dem Haus.

 

So weiß wie Schnee

 

so weiß wie Schnee

so schwarz wie Haar

so rot wie tot

fein Schwesterlein

hier muss es sein

wie weiß wie weit

so nah so fern

so rot wie gern

da sind wir halt

im Zauberwald

wie weiß wie fern

so kalt und bald

so schwarz so nah

 

Ein Gleiches

 

so weiß wie

wieso weiß?

Schnee!

na so, Schnee ...

 

Schneelied

 

Schnee Schnee

wie ich dich gerne seh

 

im Mund

schmilzt er schnell

taut

ein bisschen

Nass auf den Lippen

 

man muss schon schnell

zuküssen

 

Ich hört ein Brünnlein rauschen

 

die im Brunnen scharrenden Rehe

wenn du mich trinkst – oh Schwesterchen hör

oh Brüderchen hör doch – wenn du mich trinkst

die im Brunnen scharrenden Rehe

 

die im Brunnen lauernden Wölfe

wenn du mich trinkst – oh Brüderchen hör

oh Schwesterchen hör doch – wenn du mich trinkst

die im Brunnen lauernden Wölfe

 

die im Brunnen träumenden Tiger

wenn ihr mich trinkt – oh Schwesterchen hör

oh Brüderchen hör doch – wenn ihr mich trinkt

die im Brunnen träumenden Tiger

 

Wolfsschlitten

verstummte das Rudel der Hunde
nachts an dem flackernden Feuer
Nordwind Nordwind
kam aus dem Norden den Weg

wir machten aus moosiger Borke
unsere Raststatt im Regen
Nordwald Nordwald
auf unsrer Reise nach Nord

es zogen die zottigen Wölfe
bis zum Polarstern die Schlitten
Nordlicht Nordlicht
nördlichen Himmel hinauf

 

Sonne, Mond und Sterne

sie zog aus ihrer Nuss ein Kleid
so golden wie die Sonne
verschwunden war das Hinkelbein
drum musste ab ein Fingerlein
als Schlüssel für den Glasberg

 

sie nahm ein Kleid aus ihrer Nuss
so wie der Mond so silbern
da sprang geschwinde ein Zwerg heraus
die Herren Raben sind nicht zu Haus
dann will ich auf sie warten

sie holte aus der Nuss ein Kleid
das funkelte wie die Sterne
und in das letzte der Becherlein
die drauf der Zwerg flugs trug herein
ließ sie das Ringlein fallen

 

Sieben Raben

 

Ich wollte, du wärst eine Rabe und flögest als Rabe von hier

bis tief in den dunkelsten Wald fort. Dann wäre ich wieder bei dir.

Der Weg war so schwer zu finden, ich hätte ihn selbst nicht gewusst.

Die Blumen, es waren die Brüder. Was hast du sie brechen gemusst?

 

Sie warf ihre goldene Kette, den Gürtel auch warf sie herab.

Nicht warens die Jäger zufrieden mit allem, was sie ihnen gab.

Die Braut sprach kein einziges Wörtlein und lachte kein einziges Mal,

des Nachts näht' sie stumm an den Hemden aus Nesseln. Warn sechs an der Zahl.

 

Die Sonne war fast schon herunter, da hört' sie ein Rauschen und sah

sechs Raben, die flogen durchs Fenster und setzten sich nieder ganz nah.

Und als sie die Erde berührten, da standen die Brüder vor ihr,

sie warf über jeden ein Hemdchen. Nun bleibt ihr für immer bei mir.

 

Saßen sieben Jahre zusammen, aber das achte war schwer,

doch als das neunte Jahr anbrach, da hielt es sie länger nicht mehr.

Ich wollte, ich wär eine Rabe und wüsste von Vögeln das Glück,

dann bliebe ich hier nicht alleine mit den sechs Hemden zurück.

 

Wie das Hähnchen Wasser holte

Brunnen, sollst mir Wasser geben,
geht dem Hühnchen sonst ans Leben!
Erst zur Braut um Seide rot
lauf geschwinde und die Not
nimmt sogleich ein gutes Ende,
weil ich Wasser dazu spende.

Braut, von deiner roten  Seide
gib mir etwas, ach, ich bitt,
für den kühlen Brunnen mit!
Wird mir drum sein Wasser geben,
Wasser rettet Hühnchens Leben,
hat mich danach ausgeschickt,
weil's sonst jämmerlich erstickt!
Erst mein Kränzlein von der Weide,
wo es gestern hängen blieb,
als ich dort vorüberkam
und nicht recht in acht mich nahm,
ist dir Hühnchens Leben lieb,
bring mir her für rote Seide.

Weide, Weide, bitte zeig
mir doch einmal deinen Zweig,
wo das Kränzlein hängen blieb,
als die Braut des Weges kam
und nicht recht in acht sich nahm!
Kränzlein ist ihr wert und lieb,
lässt mir, bringe ich's zu ihr,
etwas von der roten Zier
ihrer Seide zum Entgelt,
die dem Brunnen so gefällt!
Wird mir Wasser dafür geben,
Wasser rettet Hühnchens Leben,
hat mich danach ausgeschickt,
weil der dicke Kern der Nuss
sich so schwer verschlucken lässt,
denn er steckt im Halse fest,
dass es schier ersticken muss!

Für das Kränzlein aus der Weide
ließ die Braut ihm rote Seide,
Wasser gab dafür der Bach,
wie versprochen, aber, ach,
Hühnchen, das danach geschickt,
ist schon an der Nuss erstickt.

 

Erdbeeren

Einmal machte sie ihr
ein Kleid von Papier
und stieß sie zum Wald durch die Türe hinaus

es war aber Winter, rings alles verschneit,
und der Boden war steinhart geforen.
"Zeit, um Erdbeern zu pflücken. Komm nur nicht nach Haus,
bis das Körbchen gefüllt!", so der strenge Bescheid.
"Diesmal", dachte sie, "bin ich verloren."

In dem Kleid von Papier
stand sie doch an der Tür
des Abends ganz heil und erneut vor dem Haus,
das Körbchen mit Erdbeern fast voll, und sie bot

unterwegs ging wohl eine verloren
– 
einen freundlichen Gruß, dabei hüpfte ihr aus
ihrem Mund ein Stück Gold von noch dunklerem Rot
als die Wangen und frierenden Ohren.

 

Der Baum, der (nicht) spricht

Was ist denn, Baum,
da stehst und schweigst du.
Rührst deine Zweige
doch sonst jede Nacht.

Der Tau wiegt leicht
auf meinen Zweigen,
unter der Rinde
das Herz ist mir schwer.

Nun sprichst du doch
zumindest wieder,
rührt auch kein Zweig sich,
es raschelt kein Blatt.

Da nickt der Baum
und seine Zweige
hat er und Blätter
leis rascheln gemacht.

 

Die Gänsemagd

 

Eine Gänsemagd führte die Gänse aus, da lag am Bach ein Ranzen,

dazu eine Flinte und ein Soldat. "Mit dem tät ich gern einmal tanzen",

dacht sie, doch mochte im Schlaf ihn nicht störn. So pflegte er weiter der Ruhe

und die Gänsemagd führte die Gänse zum Fraß, die gingen wie sie ohne Schuhe.

 

In der Irre

 

Auf dem Heimweg von ihrem Bräutigam geriet eine Braut in die Irre

in einem wüsten, verwunschenen Wald und ward, als die Nacht kam, ganz wirre.

Am Himmel hing ein halber Mond. Sein Licht konnte wenig nützen,

denn es schimmerte, anders, als sie gedacht, nur auf den Wasserpfützen.

Ihre Perlen, die sie zum Zeichen gestreut, hatten schon einen Finder gefunden.

Wer immer es gewesen sein mag, die Perlen waren verschwunden

und die Braut geriet immer tiefer hinein in die Wildnis. "Ich habe kein Glück",

sprach sie. Da hörte die Eule sie schrein: "Du findest nie mehr zurück!"

 

Zwei Geschwister saßen im düsteren Wald, bis der Mond kam, um helle zu scheinen.

Der Bruder sprach: "Nun fürchte dich nicht und spare dir dein Weinen.

Wir können jetzt deutlich die Bröcklein vom Brot, die ich sorglich verstreut habe, sehen.

Sie weisen uns sicher den Weg nach Haus" – und musste am Ende verstehen:

Die Brotkrumen wurden, von denen er sprach, wohl lang von den Vögeln gefressen.

Vielleicht auch von Mäusen und andrem Getier. Er hatte die Tiere vergessen.

Eine Wolke verdunkelte eben den Mond und der Waldkauz schloss den Reim,

indem er aus der Ferne schrie: "Ihr gingt irr, ihr kehrt nimmermehr heim!"

 

Sieben Brüder verliefen bei Tag sich im Wald. Nun war Nacht und der Mond mocht nicht scheinen.

Doch erhob sich ein Wind und der Regen war kalt. Da begannen sie Fluchen und Weinen.

Darein ertönte Wolfsgeheul. Der Schreck fuhr in all ihre Glieder,

als sie es bemerkten. Da wurden sie stumm und redeten lange nicht wieder.

"Ich klettere auf einen Baum hinauf", sprach der Jüngste, "bleibt ihr unten stehen,

denn wenn es recht ordentlich finster ist, so kann ich ein Licht sehr leicht sehen",

und klomm in die Höhe und schaute von dort ringsum in das Dunkel hinaus.

Das war überall und kein Licht war darin. Rief die Eule: "Kommt nimmer nach Haus!"

 

Der goldene Vogel

Im Mondschein flog ein Vogel daher, sein Gefieder glänzte von Gold.
Ihm nach mit dem Tag brach des Königs Sohn auf. Das hat auch der König gewollt.
Er ging in das lustige Wirtshaus hinein, da lebt man in Saus und Braus.
Er dachte des Vogels nimmermehr und kehrte sich nie mehr nach Haus.
Der zweite Sohn brach voller Zuversicht auf. Sie hofften aber vergebens.
Er langte zu tief in den Brunnen hinab. Da ertrank er im Wasser des Lebens.
Und weil nun kein anderer übrig war, so schickte man endlich den Dritten.
Der blieb von derselben Stund an verscholln, da er von dannen geritten.
Den Vogel hat keiner je wieder gesehn. Vielleicht, dass er Menschen jetzt scheute.       
Auch möglich, dass er gestorben ist. Nicht anders als alle die Leute.    

 

Wenn sie nicht gestorben sind

 

Ja, wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie wohl auch noch heute.

Wenn aber alle gestorben sind, leben sie nicht mehr, nicht heute.

Mir scheint fast, dass sie gestorben sind. Sie lebten sonst bis heute.

Weil aber alle gestorben sind, lebt keiner von ihnen mehr, heute.

Das kommt, weil sie gestorben sind. Sonst lebte wohl mancher auch heute.

Wenn sie nicht alle gestorben wärn, wär da mindestens einer noch heute.

 

Die jungen Greifen

 

Gestern wuchsen wir gut zwischen Felsen verborgen,

denn gestern war heute noch morgen,

 

heute kreisen wir hoch über unseren Nestern,

aber heute ist morgen schon gestern,

 

morgen fliegen wir aus auf der Suche nach Beute

und morgen ist morgen schon heute.

 

Sieben Nächte

 

Sind sieben bleiche Schwestern,

die sieben Nächte Wolle spinnen:

Siehst du, wie die Fäden emsig auf die Spindeln rinnen?

 

Sind sieben blasse Schwestern,

die sieben Nächte Kummer sinnen:

Hörst du, wie die Stunden müßig durch das Sandglas rinnen?

 

Sind sieben bange Nächte,

die müde in den Morgen rinnen:

Müssen sieben lange Jahre immer neu beginnen.

 

Gib nur gut acht!

 

Du gib gut acht,

im Walde wacht

der Zwerge zorngemute Schar

und schleppt, nur diese Nacht im Jahr,

das Gold beim Mondlicht aus dem Schacht ...