GUT GETRÄUMT

Silhouetten auf dem Eis

 

 

Hemigrammus erythrozonus

Winter. Wald. Der schöne Schnee
Unbetreten, keine Spur,
Die ich darin finde. Nur
Tanzen, wie ich jetzt erst seh,
Vor mir wie ein Mobile
Tausend Glühlichtsalmler, schwimmen
Schwebend in der Luft aus Eis,
Wo sie wechselweise glimmen.
Eis ist Wasser, ja, ich weiß.
 
Panthera illustris

Die Stadt ist hell und heiß. Auf einem weißen,
Gefliesten Weg, wo ich am Mittag gehe,
Geschieht, dass ich ein Stück voraus ein Gleißen,
Wie wenn die Luft vor Hitze zittert, sehe.

Für eine knappe Zeit. Denn schon beginnt
Sich das zu konturieren und gewinnt
Gestalt: ein Panther, welcher selbst noch immer

So silbern glänzt wie erst der flirre Schimmer,
Dem er entging, hält lautlos auf mich zu
Und wird, da er mich just erreicht, im Nu

Zu einer schlanken Frau. Zwar ignoriert
Sie mich kokett, doch weil ich wortlos bitte,
Kehrt sie sich einmal um und rezitiert:
"Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte".
 
Das Megatherium

Es stellte sich auf seine beiden Hinterbeine,
Dass es fast haushoch aufrecht vor dem Hause stand,
Und riss mit seinen starken Krallen grobe Steine
Zum Fraße sich heraus aus dessen einer Wand
Statt wie im Buche auf dem Bild von einem Baum
Mit seiner langen Zunge Blätter. Es geschah
Ganz unaufhaltsam alles dies in einem Traum,
Den ich als Kind vor vielen Jahren einmal sah.

 

Psyche

 

Ein doppelt handgroßer Falter

Steigt nachts am geschlossenen Fenster

Draußen im Flug auf und ab.

Drinnen im Zimmer bewegt sich

Davon die Gardine. "Wie geht",

Denk ich, "der Hauch durch das Glas?",

Und merke dran träumend den Traum.
 
Peripatetiker

Ein weiter Rundgang spät sommers im Wald.
Auf dem Weg eine Pfütze. Ein Aufenthalt.
Du setzt dich und streckst ohne Strümpfe und Schuhe
Beide Füße ins Wasser, genießt die Ruhe
Ringsum und das Wasser der Pfütze ist lau,
Wenig tief und der Boden darunter fast weich –
Schieb die Zehen hinein! Wie wonnereich,
In dem Grund, welcher nachgibt, herumzuwühlen,
Dass das Wasser sich trübt! Da beginnst du zu fühlen:

Etwas kitzelt und krabbelt dir über den Spann
Des einen Fußes zuerst und dann
Deines anderen Fußes. Auch ist es nichts nütze,
Dass du sie jetzt schüttelst – heraus aus der Pfütze!
Du beugst dich über die Knie. Und schau:
Da quert unverkennbar dir einen Fuß
Nass glänzend ein Peripatus
Und strebt mit seinen Stummelfüßen
Zum Wasser zurück. Aysheaia lässt grüßen.
 
Ferien auf dem Land

Der Bauer steht vor seinem Haus.
Er schimpft und schaut verärgert aus.
Was ist ihm denn geschehen?
 
"Die Tochter", spricht er  – er hat zwei  –,
"Die Tochter legte heut ein Ei."
"Wie konnte das geschehen?"

"Sie weiß es, sagt sie, selber nicht",
Der Bauer stirnerunzelnd spricht,
"Man kann es nicht verstehen.

Doch stammt es, sagt sie steif, von ihr.
Es lag im Gras nicht weit von hier,
Wo wir jetzt beide stehen.

Nun frage ich: Wo führt das hin?
Weiß doch kein Mensch: was sitzt darin,
Man kann es auch nicht sehen.

Dabei steht ihre Hochzeit an.                        
Was wird, wenn erst ihr Ehemann ..."
"Darf ich das Ei mal sehen?"

Es deckt den Teller seiner Hand,
Darin es ruht, fast bis zum Rand
Und ist hübsch anzusehen,
 
So weiß wie Milch und schimmert matt
Im Abendlicht, es ist ganz glatt,
Man kann es sehr schön drehen.

Was sitzt darin, was wird das nur
Zuletzt für eine Kreatur?
Ich würde sie gern sehen,

Nachdem sie aus der Schale kroch,
Denk ich bei mir und weiß es doch:
Das wird niemals geschehen.

Der Bauer steckt das Ei schnell ein
Und eilt ins Haus. Ich bleib allein
Hier vor der Schwelle stehen.

Doch schaue ich mich forschend um.
Es sind der Töchter zwei. Darum.
Ihr werdet mich verstehen.
 
Abgehoben

Nicht richtig geflogen,
Das wäre gelogen,
Doch Levitation,
Ja, das sicher schon.
Und legten ein Stück
In der Schwebe zurück.
Wir waren zu zweit
Und dabei nicht weit
Von der Erde entfernt,
Als ob man erst lernt.
Ein klein bisschen oben,
Der Wind hat geschoben,
Ich hielt deine Hand.
Du warst mir bekannt.

 

Versteinerter Vogel

Der auf dem Stab saß,
Der stumpf aus der Mauer
Vorkam, der Vogel war grau,
Seit Urzeiten fest
An das Eisen gewachsen,
Wurde er stumm und zu Stein.

Einen Finger zur Probe
Führt ich zum Schnabel,
Blitzschnell biss er hinein,
Ein einziges Mal,
Aus zwei Malen quoll rot,
Zierlicher Zähne, das Blut.

Vampir oder Vogel,
Plötzlich verdoppelt
Und munter den einen Moment,
Seit Urzeiten grau
An das Eisen gewachsen,
Stumm war er wieder der Stein.
 
Die Raumstation

Man hat sie aus gläsernen Kugeln gebaut,
Die hohl sind und riesig, und immerfort drehen
Sie sich umeinander wer weiß wo im Raum;
Indem ich mich dicht an der Glaswand bewege,
Bin ich selber in einer und schaue hinaus
In das Dunkel, durch das wie erwartet die Sterne
Verstreut sind und immerfort strahlen, doch kaum,
Dass ich mich um ein Weniges wende, so werde
Ich in einer anderen Kugel, sie schraubt
Sich an meine heran, jenes sehr blauen Meeres
Gewahr, das die Kugel halb füllt und sich kraust
Obenhin wie von Flut oder Wind, und der Heere
Geflügelter Rochen. Hier endet der Traum.
 
Zeitreisebahnhofsuhr

Eine Wiese im Sommer. Wir sitzen darauf.
Es ist hell, es ist  warm. Ein paar Bäume ringsum.
Ich denke: Ein Park. Aber ohne Besuch
Aus der hiesigen Zeit. Kein Mensch. Nicht ein Haus

Steht im weiteren Blickfeld, es gibt nichts gebaut:
Keine Treppe noch Weg und auch keine Skulptur.
Doch das Gras gut geschnitten. Und da: In der Luft
Ist just aus dem Nichts eine Uhr aufgetaucht

Von der Art, wie man Uhren aus Bahnhöfen kennt
Oder einmal gekannt hat, jedoch nur das Blatt
Mit den Ziffern und Zeigern, kreisrund und es schwebt

An gar nichts befestigt. Das Zeigerpaar steht
Auf knapp zehn Minuten nach neun und ich frag:
"Wo sind wir denn hier? In dem wievielten Jahr?"

"Neunhundertundzehn", sagt sie etwas erstaunt
Und weist mit dem Kopf auf das Bahnhofsuhrrund.
Im selben Moment liegt ein sehr altes Buch
Mir auf meinen Knien, ich schlage es auf,

Wo es selber sich aufschlägt, und lese: "Der Staub
Aus Tausenden Schmetterlingsflügeln erscheint
In dem sonnengoldleuchtenden Gelb ihres Kleids."
Es klingt wie die Quintessenz jeglicher Zeit.
 
Kursivschrift, Tinte

Ihr eierschalfarbener Mantel ist dünn
Und sie trägt eine spaßige Brille,
Die Gläser in etliche Bänder gefasst,
Die schmal an den Schläfen sich kreuzen;
Sie gleichen sehr Streifen aus weißem Papier
Und sind in der Tat teils beschrieben,
Die Schrift ist kursiv, aber läuft auf dem Kopf,
Das macht es nicht einfach, zu lesen.
Die andere wendet sich jetzt zu mir her
Und schlägt mir die Augen entgegen,
Die Augen sind groß, ihre Iris ist blau
Und erinnert an schaumige Tinte.
 
Die Regenschrift
 
Am Abend. Ein Fenster, von innen geschaut,
Dahinter fällt Regen, man hört keinen Laut,
Doch zerfließt er, da, wo er die Glasscheibe trifft,
Gut sichtbar in eine japanische Schrift.